TikTok

Kriegsberichterstattung im Kinderzimmer

Der Krieg in der Ukraine beschäftigt natürlich auch Kinder und Jugendliche. Sie suchen Antworten auf Fragen zu Krieg und Frieden, die sich ihnen in dieser Situation stellen. Zudem bekommen sie Antworten auf Fragen, die sie gar nicht gestellt haben. In beiden Fällen spielen soziale Netzwerke eine wichtige Rolle.

„Ich habe gestern Tote gesehen in einem Video“, berichtet ein Schüler in einem unserer Workshops in einer sechsten Klasse „ich hatte voll Angst, dass ich davon träume“. Eine Mitschülerin ergänzt: „In einem Video habe ich gesehen, wie Panzer Wohnhäuser zerstört haben“. Viele in der Klasse nicken und wirken betroffen. Die Rede ist von Videos auf TikTok, die vermutlich Szenen aus dem Krieg in der Ukraine zeigen. Auch Kinder und Jugendliche, die tagtäglich Kampfspiele mit Kriegsszenarien auf Spielekonsolen spielen zeigen sich schockiert: „das passiert alles echt!“

Auf die Frage, ob die Mädchen und Jungen mit ihren Eltern über ihre Erfahrungen sprechen reagieren die Klassen sehr unterschiedlich. In vielen Familien ist der Krieg Thema und wird sensibel besprochen. Allerding scheinen auch einige Eltern gar nicht zu wissen, auf welche Art und Weise sich ihre Kinder mit dem Krieg und vor allem mit seinen Bildern und Videos beschäftigen.

Problemfeld Desinformation

Kinder und Jugendliche nutzen ihre Alltagsmedien neben Unterhaltungszwecken auch, um sich über politisches Geschehen zu informieren. Manche haben bspw. die Tagesschau bei Instagram abonniert und werden so auf dem Laufenden gehalten. Andere recherchieren gezielt per Suchmaschine oder folgen auf YouTube Kanälen, die über politisches Geschehen informieren. Nicht selten werden Beiträge aus Nachrichtenportalen in Chatgruppen geteilt, sodass Tagespolitik häufig auch in Klassenchats eine Rolle spielt. Einige Kinder und Jugendliche sind auch erstaunlich kompetent, wenn es um Quellenkritik oder das Erkennen von Manipulation in sozialen Medien geht. Eventuell haben sie hier in der Corona-Krise einiges lernen können (und auch müssen), wenn es um den Umgang mit Informationen im Internet geht. Dennoch werden auch Falschmeldungen geteilt oder Portale für glaubhaft gehalten, die alles andere als seriös recherchieren oder sogar gezielt desinformieren wollen.

„Ich habe gesehen, dass Putin Kinder in Deutschland hat. Die wollen sie jetzt entführen, damit er mit dem Krieg aufhört“, berichtet eine Jugendliche und ist nicht sicher, ob das ein legitimes Mittel sei. Auch Missverständnisse verbreiten sich: „Bis auf vier Länder sind alle für Russland. Das muss man sich mal vorstellen, fast die ganze Welt ist gegen die Ukraine“ hat ein Junge aus einem Chat erfahren. Hinzu kommt Staatspropaganda, wie sie in Kriegen vermutlich üblich ist und idealerweise von verantwortungsvollen Redakteuren eingeordnet wird – oder eben nicht.

TikTok als Nachrichtenportal

Doch kommen gerade bei TikTok noch weitere Aspekte hinzu. Die rasante Dramaturgie eines Clips scheint oft keinen Nachsatz zuzulassen, der darauf hinweist, dass sich die Angaben der Kriegsparteien nicht unabhängig überprüfen lassen. Doch viel entscheidender ist der Punkt, dass bei TikTok nicht unbedingt die Videos erscheinen, mit denen Kinder und Jugendliche in dem Moment rechnen. So kommt es vor, dass der Algorithmus Videos auswählt, die die Nutzerin oder den Nutzer zwar interessieren, mit denen zwischen Tier- und Tanzvideos allerdings nicht gerechnet wird. Plötzlich erscheinen schockierende Szenen aus dem Kriegsgebiet mit realer Zerstörung und echten Toten – obwohl man eigentlich zur Entspannung Unterhaltungsbeiträge sehen wollte. Das passiert seltener, wenn nur Videos von Accounts angezeigt werden, denen aktiv gefolgt wird; in der „Für dich“ Auswahl entscheidet TikTok, was vermutlich attraktiv ist. Ohne Hinweis auf ggf. schockierende Inhalte oder eine eigene Vorbereitung auf entsprechende Erfahrungen brechen so drastische Darstellungen über Kinder und Jugendliche herein, die eigentlich Entspannung suchen.

Redebedarf

Wir stellen in den Workshops fest, dass nicht nur wegen der wohl dramatischsten kriegerischen Auseinandersetzung im Leben der meisten Kinder und Jugendlichen grundsätzlich Redebedarf besteht, sondern auch wegen der medialen Präsenz dieses Krieges. Doch scheint beides wie eingangs dargestellt nicht in allen Familien zu passieren. Auch die Schule scheint hier in manchen Fällen nicht der Ort zu sein, der Orientierung gibt. Eine Mutter berichtete, dass sie ihren Sohn kurz nach dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine Ende Februar fragte, ob die Klasse in der Schule über das Thema gesprochen hätte. Die Antwort war: „Ja, natürlich“. „Und was haben eure Lehrer gesagt?“ „Wieso Lehrer, wir haben auf dem Schulhof darüber gesprochen.“ Ähnliches hörten wir von anderen Eltern. Eine Schülerin fand die Situation auch nicht verwunderlich: „Naja, wenn das halt gerade nicht Thema im Unterricht ist, warum sollen wir dann darüber reden?“

Einige Lehrkräfte erinnern sich dann allerdings an die eigene Schulzeit in den 90ern und den Umgang mit kriegerischen Auseinandersetzungen: „Als der Golfkrieg in Kuwait begann, gab es bei uns in der Schule kein anderes Thema - in allen Fächern. Spontan wurde noch vormittags eine Demonstration für den Frieden auf dem Schulhof organisiert.“

Kinder und Jugendliche brauchen Antworten

„Ich merke gerade, die Klasse braucht keinen Medienkompetenz-Workshop zum Thema Ukraine-Videos auf TikTok, die müssen erst mal ganz viele Sorgen und Ängste loswerden“, lautete die Rückmeldung einer Lehrerin nach einem Workshop mit ihrer siebten Klasse. „Das muss ich unbedingt nächste Stunde nachholen!“

Nach unserem Eindruck überfordert manche Familien eine altersangemessene und vor allem empathische Auseinandersetzung mit ihren Kindern. Viele Lehrerinnen und Lehrer leisten hier wertvolle Arbeit, indem sie trotz Zeitdruck im Unterrichtsgeschehen die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler berücksichtigen und Raum für Gespräche schaffen, wo eigentlich gar kein Raum ist. Doch warum scheinen andere Lehrerinnen und Lehrer ihre Klassen so allein zu lassen?

Vielleicht ist der Schulbetrieb noch zu sehr mit den Folgen der Schulschließungen und den aktuellen Herausforderungen der Corona-Pandemie belastet, als dass auf die aktuelle Situation eingegangen werden kann. Vielleicht fehlen manchen Lehrkräften Ansätze zur Bearbeitung des Themas, weil sie selber viel zu sehr schockiert sind von der absurden Situation eines Angriffskriegs dieser Art mitten in Europa in der heutigen Zeit. Vielleicht verlassen sich Lehrerinnen und Lehrer darauf, dass Eltern sich mit den Anliegen der Kinder ausreichend auseinandersetzen, obwohl offensichtlich ist, dass einige Familien schon mit ganz anderen Dingen völlig überfordert sind. Vielleicht ist auch vielen nicht klar, auf welche Art und Weise TikTok und andere soziale Netzwerke die Grausamkeiten eines Krieges in die Kinderzimmer transportiert.

Klar ist nur: Kinder und Jugendliche brauchen Antworten auf die quälenden Fragen um Krieg und Frieden. Und wenn ihnen niemand dabei zur Seite steht, hilft das Smartphone – auf seine eigene Art und Weise …

Dieser Beitrag wurde am 10.03.2022 verfasst.



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