Suchtberatung

«Süchtig nach dem Internet kann man nicht sein.»

Christian Krüger arbeitet für die Drobs Hannover. Wir haben mit ihm ein Gespräch über Internetnutzung und Sucht, geschlechtsspezifische Aspekte und über die Rolle von Eltern bei exzessivem Medienkonsum der eigenen Kinder geführt.

Das Gespräch führte Moritz Becker.



smiley e.V.: Lieber Christian, wir begegnen uns regelmäßig bei Veranstaltungen und beschreiben aus unseren Perspektiven die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen. Wir besuchen Schulklassen, ihr seid unter anderem eine Beratungsstelle: wer kommt zu Euch in die Beratung?

Christian Krüger: Die Drobs Hannover ist als Fachstelle für Sucht und Suchtprävention zuständig für alle Fragen oder Probleme in diesem Bereich. Wobei wir nicht nur auf Suchtmittel bezogen beraten, sondern uns auch um stoffungebundene Süchte kümmern – es kommen also auch Leute zu uns, bei denen es z. B. um problematisches Computerspielen geht. Und es kommen nicht nur Menschen zu uns, die selber Probleme haben, sondern auch Angehörige, Freunde, Bekannte und Andere, die sich Gedanken oder Sorgen um jemanden machen.

smiley e.V.: In unseren Fortbildungen zum Thema Medienerziehung für Lehrkräfte oder im Bereich der Jugendhilfe entsteht oft der Eindruck, dass exzessive Internetnutzung eher ein Problem für Jungen als für Mädchen ist. Kannst Du das bestätigen?

Christian Krüger: Mich wundert es nicht, dass die Jungen mit ihrem Verhalten mehr auffallen. Wenn sie begeistert vor dem Rechner sitzen und Multiplayer-Spiele spielen, wird es auch schon mal lauter. Wer kennt das nicht vom Fußball, wenn der Schiedsrichter ausgebuht wird. Aber mal ehrlich – Zahlen der Pinta Studie von 2013 zeigen auf, dass es eine ganze Menge Jugendliche gibt, die Probleme mit der Nutzung von bestimmten Internetangeboten haben. Und diese Zahlen sagen auch, dass es mehr Mädchen als Jungen sind. Diese fallen jedoch vermutlich nicht so auf, weil sie ein anderes Nutzungsverhalten haben und auch ganz andere Apps intensiver nutzen als Jungen. Sie bevorzugen, häufiger als die männlichen Jugendlichen, die sozialen Netzwerke und Kommunikations- und Darstellungsplattformen wie Instagram oder TikTok. Ich persönlich glaube aber, dass es bei der Studie zu Fehlinterpretationen und Ungenauigkeiten gekommen ist und würde vorsichtig mit dieser hohen Zahl an Problemnutzern umgehen. Zu uns in die Beratung kommen aber tatsächlich viel mehr betroffene Jungen bzw. deren Eltern.

smiley e.V.: Sind es eher Jugendliche, oder viel mehr die Eltern die euch aufsuchen?

Christian Krüger: Jugendliche die freiwillig zu uns kommen, sind selten. Die meisten kommen weil die Eltern es wollen. Kommen sie dann alleine, ist es oft schwierig mit ihnen zu „arbeiten“ – dann gilt es erst mal vorrangig, die als problematisch eingeschätzte Situation grundsätzlich zu beleuchten. Kommen sie hingegen gemeinsam mit ihren Eltern zu uns in die Beratung, sieht es schon ganz anders aus. Denn Probleme gibt es zuhause ja auf jeden Fall. Da reicht es auch, wenn nur eine Seite der Familie ein Problem mit etwas hat. Hier gilt es dann für uns, mit viel Fingerspitzengefühl den Kern des Konfliktes herauszuarbeiten …

smiley e.V.: Vermutlich werden Jugendliche die eigene Situation anders beurteilen, als die Eltern es sehen?

Christian Krüger: Genau! Das macht es dann spannend. Gerne lasse ich von beiden Seiten, also den Eltern und den Jugendlichen, das Problem kurz beschreiben. An dieser Stelle gibt es dann meistens kleine Überschneidungen, an denen wir uns orientieren können. Merkt der Jugendliche, dass wir nicht parteiisch sind, entsteht bei ihm oft eine größere Bereitschaft, sich mit den Eltern und ihren Sorgen genauer auseinander zu setzen. Genauso hat der Jugendliche natürlich auch die Chance, seine Interessen klar nach außen zu vertreten. Diese spielen mit dem Alter steigend eine immer größere Rolle. Es kommt dann aber auch darauf an, dass der Jugendliche die eigenen Interessen sachlich und mit genügend Verantwortungsübernahme vertritt. Das ist nicht leicht und zeigt mir als Berater auch, wie verantwortungsvoll der Jugendliche sein PC-Spielen betreibt.

smiley e.V.: Wann ist denn nach Deiner Definition jemand tatsächlich süchtig nach Medien bzw. dem Internet?

Christian Krüger: Süchtig nach dem Internet kann man nicht sein. Das ist so, als bezeichnete man jemanden als süchtig nach Flaschen, obwohl ihn nur der Inhalt von bestimmten Flaschen interessiert. Erst seit Sommer 2018 wurde für den ICD 11* klar formuliert, dass Computer- und Konsolenspiel süchtig machen kann. Von sozialen Netzwerken ist hier noch überhaupt nicht die Rede. Die Kriterien für eine Suchtdiagnose sind einfach wie auch verwirrend. Vereinfacht sind folgende vier Punkte formuliert:
1) Kontrollverlust, Nicht-auf-das-Spielen verzichten-können bzw. auch nach Pausen immer wieder verstärkt einzusteigen, 2) Verhaltensbezogene Einengung, 3) Fortsetzung trotz psychosozialer Probleme und 4) Gefährdung und Verluste.

Diese Punkte müssen alle über einen Zeitraum von 12 Monaten zutreffen. Ich kenne viele Eltern, die dann schnell sagen, dass passt auf meinen Sohn. Doch eine Diagnose soll und muss von einem Arzt oder Psychologen erstellt werden. Oft sind es viele Anzeichen, die auf eine Entwicklung in die Richtung deuten, doch häufig sind auch bestimmte Verhaltensweisen in der Pubertät ganz normal. Eine tatsächliche Abhängigkeit von Computerspielen hingegen kann in ihrem Verlauf zu massiven Verlusten führen – Schule und Ausbildungen werden abgebrochen, Beziehungen zerbrechen und manche Betroffene verlieren auch ihren Job. Nichts hat mehr eine Bedeutung – nur das Spiel zählt noch. Solche Menschen stellen dann irgendwann leidvoll fest, dass in ihrem Leben Einiges den Bach runtergegangen ist und sie spüren, dass das auch mit ihrem Spielverhalten zusammen hängt – diese Betroffenen brauchen dann viel Unterstützung und Hilfe. Wobei die Erkenntnis der Eigenverantwortung und die Eigenmotivation für eine Behandlung wünschenswert sind und die Behandlungsprognose deutlich verbessern können. Voraussetzung für den Beginn einer Behandlung sind sie aber nicht und bei vorrangiger Fremdmotivation ist die Entwicklung der Krankheitseinsicht und der eigenen Veränderungsmotivation ein wichtiger Teil der Behandlung.

smiley e.V.: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Krankheiten aktuell im sog. ICD-10. Hier taucht der Begriff Onlinesucht nicht auf, im neuen noch nicht gültigen ICD-11* schon. Wird das die Arbeit der Suchthilfe zukünftig erleichtern?

Christian Krüger: Auf jeden Fall! Aktuell arbeiten wir bei der Therapievermittlung noch häufig mit komorbiden Erkrankungen. Das heißt, bei 80 % der Fälle sind andere, zumeist psychische Erkrankungen vordergründig und Behandlungsleitend. Das sind häufig Depressionen, soziale Phobien, generalisierte Angststörungen und weitere psychische Krankheiten. Ob das Computerspielen zuerst da war, ist nicht immer klar. Fakt ist nur, dass die psychische Erkrankung für die Möglichkeit der Abrechenbarkeit der Behandlung unerlässlich war. Das wird mit den in der Diskussion befindlichen Änderungen anders werden. Dazu kommt, dass über die Anerkennung der Computerspielerkrankung dann natürlich auch Therapie- und Präventionskonzepte in der Forschung und Entwicklung besser finanziert werden können. Außerdem wäre es erstrebenswert, wenn sich auch die Beratung noch mehr spezialisieren könnte. Dies geht aber nur, wenn öffentliche Mittel dafür bereitgestellt werden. Die Drobs hatte das Glück, dass sie bei dem Landesprojekt „re:set! – Beratung bei exzessivem Medienkonsum“ mitmachen kann.

smiley e.V.: Was ist dann mit den Familien, die es nach deiner Definition und auch nach der WHO nicht mit einer Suchtproblematik zu tun haben? In der Wahrnehmung haben die Eltern ja ein Problem – schickt Ihr die wieder weg?

Christian Krüger: Bloß nicht! Wir lassen keinen alleine mit seinem Problem. Die Eltern, die mit Sorgen zu uns kommen, gehen verantwortungsvoll mit ihrem Erziehungsauftrag um. Das ist gut und richtig so und sie haben Unterstützung verdient. Gerade weil sie den Schritt in eine Beratung gewagt haben. Da gehört Mut zu, zumal oft noch der Irrglaube besteht, dass eine Beratungsstelle nur bei Suchtproblemen hilft und das Drogen im Spiel sein müssen. Diese Eltern bekommen bei uns die Möglichkeit, ihren Erziehungsauftrag ernst zu nehmen und gemeinsam mit uns zu reflektieren. Das ist manchmal ein schweres Unterfangen, zumal es alle Eltern richtig machen wollen und sie sich bei der Vielzahl an digitalen Medien oft verloren und alleine gelassen fühlen. Oft kennen sie sich nicht gut aus mit den Dingen, die ihre Kinder nutzen und wir können gemeinsam die Vor- und Nachteile des jugendlichen Verhaltens beleuchten. Zusätzlich besteht häufig ein Generationskonflikt in Bezug auf die mediale Sozialisation. Außerdem entwickeln sich die digitalen Medien sehr schnell und es ist schwer, immer up to date zu bleiben. Als Berater gehe ich sehr sensibel und individuell mit den Bedarfen der Ratsuchenden um.

smiley e.V.: Dann ist Deine Arbeit oft eher so etwas wie Erziehungsberatung?

Christian Krüger: Richtig! So kann man das sagen. Häufig spielen Themen wie Loslösung aus dem Elternhaus, Grenzen setzen, Verantwortungsübernahme der Kinder und Adoleszenz eine wichtige Rolle in meiner Beratung.

smiley e.V.: Oft wird gute Erziehung ganz allgemein als die beste Prävention gegen Suchterkrankung verstanden. Was bietet Ihr im Bereich der Prävention an?

Christian Krüger: „Gute Erziehung“ ist ein weiter Begriff. Wir bieten für alle Zielgruppen in der Gesellschaft maßgeschneiderte Angebote an. Vorrangiges Ziel ist es dabei immer, mit der Zielgruppe gemeinsam zu erarbeiten was wichtig ist, um ein gesundes und zufriedenes Leben zu führen. Eigenverantwortung, Gruppenzugehörigkeit, Frustrationstoleranz und Kommunikationsfähigkeit sowie Zugang zu den eigenen Gefühlen sind nur einige Themenbereiche, die in der Prävention in den Fokus genommen werden. Diese Themen können auf eine spielerische und „begreifbare“ Weise (im wahrsten Sinne des Wortes!) vermittelt werden. Klar halten wir auch Vorträge – doch am besten ist es, wenn die Zielgruppe aktiv am Geschehen teilnehmen kann und gemeinsam lernt. Ich mag es, mit Begriffs-Karten zu arbeiten, Quizveranstaltungen im Sinne von Edutainment zu spielen und die Zuhörer unterhaltsam zu begeistern. Als spezielles Medienangebot für unsichere Eltern bieten wir unser „Eltern@Home“-Event an. Dies ist ähnlich wie eine Tupperparty gestaltet: Eltern laden Freunde zu sich nach Hause ein, die Kinder im ähnlichen Alter haben. Ich komme dann als moderierender Experte dazu und wir haben einen Abend Zeit, uns über die Mediennutzung der Kinder auszutauschen. Ein „peer–to-peer“-Angebot für Eltern, so etwas gibt es nicht so oft in Deutschland.

smiley e.V.: Das deckt sich mit unseren Erfahrungen aus der Elternarbeit, dass voneinander lernen und der Austausch über Strategien im Umgang mit Medien in der Familie oft zielführender ist als ein klassischer Vortrag mit Ratschlägen. Letzte Frage: die erste Generation Eltern ist ja nun schon selber mit Computerspielen großgeworden. Das wird in den nächsten Jahren logischerweise zunehmen. Wird das Eure Arbeit verändern?

Christian Krüger: Ja – ich habe schon jetzt in meiner Beratung die ersten Väter, die selber gerne gezockt haben. Auch Mütter, die bei Facebook viel unterwegs sind, kommen mit Sorgen in Bezug auf ihre Kinder zu uns. Hier wird es noch einiges an Veränderungen in der Beratung geben. Die Presse hat ja z. Zt. die „Auf-das-Smartphone-starrende“ Mutter am Kinderwagen im Visier. Wie viele Mütter und Väter sich tatsächlich so verhalten, ist schwer zu beurteilen. Medien richten oft den Fokus auf kleine Gruppen und neigen dann zur Polarisation und zum Drama. Ich mag überhaupt nicht diese Form von Zuspitzung und bezweifele, dass das ein zu verallgemeinernder Trend ist. Schauen wir mal wie es weitergeht. Ich bin neugierig und offen bezüglich der digitalen Weiterentwicklung – sie wird uns stark beeinflussen und Türen in verschiedenste Richtungen öffnen.

smiley e.V.: Vielen Dank für das Gespräch!


* Der ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist ein Klassifikationssystem, in dem alle medizinischen Diagnosen dargestellt werden und von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird. Prinzipiell lässt sich sagen, dass alle Kosten für Behandlungen von Krankheiten, die im ICD-10-GM dargestellt werden, in Deutschland von Krankenkassen übernommen. Die Juli 2018 veröffentlichte Fassung des ICD ist der ICD-11, der ab 2022 in Kraft treten wird.

Dieser Beitrag wurde am 22.05.2019 verfasst.
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